Was mir in letzter Zeit an öffentlichen Diskussionen, sei es nun in sozialen Netzwerken oder in Talkshows, immer wieder auffällt, ist, dass immer und immer wieder dieselbe Sache verhandelt wird, ohne sie zu benennen. Es wird über die Ukraine diskutiert, über Klimaschützer, über Trans-Menschen, das Bürgergeld, die Verkehrswende oder Corona. Dabei lässt sich der Grundkonflikt der zahlreichen Diskussionen fast ausnahmslos immer auf einen Nenner bringen: Der Krieg der Starken gegen die Schwachen. Christian Stöcker hat das Phänomen unlängst in seiner Spiegel-Kolumne “Die Politik des Herabschauens führt in den Abgrund” beschrieben, dass sich mehr oder weniger alles rechts der Mitte auf die vermeintlich schwächere und unterlegene Konflikt-Partei stürzt, und zwar EGAL bei welchem Thema (https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/buergergeld-einwanderung-klima-die-politik-des-herabschauens-fuehrt-in-den-abgrund-kolumne-a-d04d411f-c954-456e-9e38-021507599254). Doch es geht um mehr, als um das gute Gefühl, auf andere herabschauen zu können, denn dieses Herabschauen ist nur das harmlose Symptom einer viel gefährlicheren Krankheit: Dem Sozialdarwinismus.
Die Idee, vereinfacht gesagt, dass der Stärkere das Recht hat, anderen seinen Willen aufzuzwingen, bzw. die Schwachen auszunutzen oder einfach ihrem Schicksal zu überlassen, einfach deswegen, weil er der Stärkere ist, ist nicht neu. Man findet es im klassischen Sozialdarwinismus nach Herbert Spencer und allem, was sich daraus ableitet, im Nationalsozialismus, der Eugenik, bei allen Radikal-Libertären, bei Ikonen der amerikanischen Rechten wie Ayn Rand, und deren Fans wie der “Chefreporterin Freiheit” Anna Schneider von der “Welt”, die mit “Die Freiheit beginnt beim Ich” gleich noch mal ein eigenes Werk vorgelegt hat, das implizit jedwede Form von Solidarität oder sozialem Denken ablehnt. Elon Musk ist davon genauso besessen wie der Tech-Investor Peter Thiel, der sich gleich zu der Aussage hat hinreissen lassen, dass er Freiheit und Demokratie als unvereinbar sieht, weil die Regeln der Demokratie seine “Freiheit” einschränken. Wichtig dabei ist zu sehen, dass nicht jeder Sozialdarwinist ein Nazi ist (aber jeder Nazi ein Sozialdarwinist). Diese Trennschärfe sollte man sich bewahren, denn ein Nazi-Vorwurf ist in einer Diskussion meistens erstens wenig zielführend (danach ist die Diskussion in der Regel beendet) und geht zweitens meistens an der Sache vorbei. Wer sich das ganze Spektrum dieser sogenannten Denkschule geben will, einmal hier entlang: https://de.wikipedia.org/wiki/Sozialdarwinismus.
Das Prinzip ist so einfach wie hässlich: Es soll das Recht, und nur das Recht des Stärkeren gelten. Demokratische Kontrolle oder der Schutz von Minderheiten wird strikt abgelehnt. Sozialdarwinismus in all seinen Spielarten ist also nichts anderes als die pseudo-intellektuelle Rechtfertigung dafür, sich jederzeit völlig rücksichtslos und unsolidarisch verhalten zu dürfen, wenn es dem eigenen Vorteil dient. Dummerweise gehören natürlich nicht alle Anhänger dieser Ideologie zu den Stärkeren, weswegen der eigenen Überlegenheit bisweilen etwas nachgeholfen werden muss, meist einhergehend mit der Verletzung moralischer oder ethischer Normen. In seiner radikalsten Ausprägung ist selbst Gewalt nach dieser Denkart ein legitimes Mittel, um die eigenen Interessen durchzusetzen. Der Selbstnutz wird zur höchsten moralischen Instanz: Erlaubt ist, was gefällt, und wer gewinnt, hat recht. Egal wie.
Gleichzeitig haben dieselben Leute nicht das geringste Problem damit, sich als Opfer einer gemeinen, “unfairen” Behandlung darzustellen, als arme Individuen, denen besonders übel mitgespielt wurde. Was zunächst wie ein grotesk lächerlicher Widerspruch erscheint, erfüllt eine unverzichtbare Türöffner-Funktion in öffentlichen Debatten. Diese Täter-Opfer-Umkehr ist ein so bekannter wie raffinierter Trick, um weitestgehend unbehelligt unter dem Vorwand einer Art Notwehr hemmungslose Angriffe gegen die eigentlich schwache und verwundbare Gruppen fahren zu können. Donald Trump hat diese Art der Rhetorik perfektioniert, indem er in jeder seiner Reden zur Hälfte darüber klagt, wie unfair er behandelt wird, und in der anderen Hälfte über Randgruppen herfällt. Soweit, so Allgemeinplatz. Aber worum es hier geht: Häufig wird diese Art von Wehleidigkeit und Selbstmitleid spöttisch belächelt, doch dabei wird übersehen, welchen unschlagbaren Vorteil diese Haltung in einer öffentlichen Debatte bringt.
Die Mischung aus kindlicher, demonstrativer Hilflosigkeit und skrupelloser, rücksichtsloser Aggression ist eine Strategie, die emphatische Menschen immer wieder aufs Neue überfordert. Denn es entspricht der Natur von normalen, halbwegs anständigen Menschen, andere Individuen, die sich als Opfer zu erkennen geben, nicht auch noch anzugreifen. Die Opfer-Haltung ist gewissermaßen rhetorischer Welpen-Schutz und Enkeltrick zugleich. Und während man noch dabei ist, sein evolutionär getriggertes Mitgefühl für die armen, ungerecht behandelten Sozialdarwinisten in den Griff zu bekommen, wird von diesen unter dem Schutzschild des vermeintlich erlittenen Unrechts ein gnadenloser Angriff gefahren, und schneller als man “Opfer” sagen kann, findet man sich in der Defensive wieder.
Auf einmal besteht die ganze Diskussion darin zu beweisen, dass es die angebliche Ungerechtigkeit gegenüber dem Aggressor nie gegeben hat. Bestenfalls wird der Angriff zurückgedrängt, aber so gut wie nie wird die Opfer-Haltung des Angreifers hinterfragt und als das entlarvt was es ist: Ein trojanisches Pferd, um die Deutungshoheit in einem völlig verzerrten Diskurs zu gewinnen. Ein Werkzeug, um eine Ungerechtigkeit mit einer angeblich viel größeren Ungerechtigkeit zu verschleiern. Es ist das Gejammer des Schlägers, dem die Faust vom Zuschlagen weh tut. Und was Linke verächtlich als charakterliche Schwäche des politischen Gegners betrachten, als armselige Wehleidigkeit, ist in Wirklichkeit DER Trick schlechthin, um den Diskurs hart nach rechts zu verschieben. Der Gesichtsverlust durch die öffentliche Wehleidigkeit wird dabei gerne in Kauf genommen, solange das Ergebnis stimmt.
Der viel zitierte Spruch, dass sich Gerechtigkeit für Privilegierte wie Benachteiligung anfühlt, manifestiert sich dann bei Diskussionen in den absurdesten Argumenten: Da werden jahrzehntelang diskriminierte Gruppen wie Trans-Menschen plötzlich zur aggressiven Spezies erklärt, die ihre irre Wokeness der unterdrückten Mehrheit aufzwingen wollen, während es tatsächlich um die schlichte Gleichberechtigung respektive Sichtbarkeit geschlechtlicher Vielfalt geht. Der Ruf nach Gerechtigkeit wird zur versuchten Unterdrückung umgeschrieben. Bestenfalls schafft man es dann in einer Diskussion, diesen Vorwurf zu widerlegen. Aber die eigentliche Diskriminierung ist dann kaum noch Thema.
Auf die Spitze getrieben wurde diese Täter-Opfer-Umkehr unlängst, als große Teile der CDU/CSU Klimaschützer, die sich auf die Fahrbahn klebten, als potentielle neue RAF brandmarkten. Jugendliche, die um ihre Zukunft gebracht werden, und mit Sekundenkleber an den Händen dagegen protestieren, wurden im Handumdrehen zu radikalisierten, potentiell mörderischen Extremisten erklärt, deren Aktionen das Leben aller bedroht (während in Wahrheit die Untätigkeit der Politik beim Klimaschutz das Leben aller bedroht). Man findet das Opfer-Narrativ beim Kampf gegen die Armen, die in dieser Erzählung als “Sozial-Schmarotzer” den anständigen, fleißigen (deutschen) Arbeiter bestehlen. Es zeigt sich beim Kampf gegen die Verkehrswende, wo die Fahrradfahrer den armen Autofahrern den Platz wegnehmen wollen (obgleich es sich seit Jahrzehnten genau umgekehrt verhält), bei Corona, wo der Schutz der Schwachen durch das Tragen einer Maske als Angriff auf die persönliche Freiheit umgedeutet wird, oder bei der Ukraine, die als Aggressor gegen das friedfertige Russland verunglimpft wird, was angesichts der Eindeutigkeit des Angriffs enorm viel Fantasie erfordert.
Personen-Gruppen, die offenkundig so unschuldig oder machtlos sind, dass ihnen keine bösartigen Unterstellungen anhaften können, wie Kinder oder Kranke, wird durch komplettes Ignorieren oder Unterstellen von falscher Schwäche (“Die sollen sich mal nicht so anstellen”) jedwede Legitimation ihrer Interessen oder Bedürfnisse nach Gleichberechtigung, Schutz oder Gerechtigkeit abgesprochen. Sie werden einfach als nicht relevant oder als überempfindlich herabgewürdigt.
Der stärkere, brutalere, rücksichtslosere Part in einer Auseinandersetzung wird von Anhängern des Sozialdarwinismus also IMMER verteidigt, egal worum es geht. Daher auch die Verschmelzung von Coronamaßnahmen-Gegner, Russland-Verstehern und Ausländerfeinden. Das verbindende Element ist immer die Verachtung und der Hass auf die vermeintlich schwächere Gruppe. Durch die offene Unterstützung von Unterdrückern und Despoten soll die eigene Rücksichtslosigkeit salonfähig gemacht und legitimiert werden. Der konkrete Konflikt ist dabei völlig egal. Und die einzige Möglichkeit, einen derart schamlosen Angriff auf schwache Personen auszuführen, ist, sich selber als Opfer darzustellen. Es ist nicht nur eine Begleiterscheinung, es ist die VORAUSSETZUNG dafür, dass die Diskussion überhaupt geführt werden kann. Ohne das eigene Opfer-Sein kann die Unterdrückung und Diskriminierung vulnerabler Gruppen nicht funktionieren. Es ist keine armselige Charakterschwäche, sondern eine strategische Waffe.
Wie kann man dieser Falle also entkommen? Wie kann man eine Diskussion so führen, dass die tatsächlichen Opfer und die tatsächliche Ungerechtigkeit im Zentrum der Diskussion stehen, und keine Schattendiskussion über erfundene Ungerechtigkeiten des Aggressors stattfindet? Die Antwort ist so einfach wie naheliegend: Mit Zahlen und Fakten. Auf diesem Feld ist die Wahrheit nicht zu schlagen. Denn während die tatsächlich diskriminierten Gruppen ihr Leiden und ihre Diskriminierung mit Zahlen und Statistiken belegen könnten, ist dies für eine erfundene Ungerechtigkeit nicht möglich, bzw. etwaige Augenwischerei diesbezüglich sehr leicht zu enttarnen.
Die meisten Menschen gehen allerdings häufig ohne Zahlen und Fakten in eine Diskussion, erstaunlicherweise auch besonders in Talkshows und andere öffentlichen Formaten. Wie oft könnte man stundenlange Meinungsdebatten abkürzen, wenn nur einer der Diskussions-Teilnehmer belastbare und nachweisbare Zahlen auf den Tisch legen würde, am besten gleich mit Quellenangabe und eingeblendetem Link, bzw. dem Gesprächspartner dadurch bloß stellen, dass er diese Zahlen nicht liefern kann. Doch erstaunlich viele aufgeklärte Menschen verfallen immer wieder dem Irrglauben, alleine die Tatsache, dass sie TATSÄCHLICH Recht haben mit ihrer Meinung, würde für die Lufthoheit in einer öffentlichen Diskussion ausreichen. Aber dem ist nicht so. Für einen unbeteiligten Dritten wird es immer aussehen, als ob zwei Menschen mit unterschiedlichen Meinungen aufeinandertreffen, die beide mit ihren Ansichten im Recht sein könnten, da beide eine Ungerechtigkeit beklagen. Aber es sind immer belegbare Fakten aus seriösen Quellen, die den ganzen Unterschied machen, die die Nebelkerzen löschen und die tatsächlichen Machtverhältnisse aufzeigen.
Drei Dinge sind also in einer Diskussion wichtig: Zum einen müssen Zahlen und Fakten gelernt und in der Diskussion eingebracht werden. Sie müssen jederzeit parat und abrufbar, verifizierbar und unangreifbar sein, idealerweise nur Daten aus offiziellen Quellen wie dem statistischen Bundesamt oder Verfassungsschutzberichten. Strukturelle Ungerechtigkeit ist überall sichtbar, die Zahlen liegen offen da. In der Regel sind sie so absurd eindeutig, dass kein Interpretationsspielraum besteht.
Zweitens, und das ist das allerwichtigste, darf das Opfer-Narrativ des Gegenübers nicht einfach unhinterfragt akzeptiert werden. Forderungen nach Belegen, Zahlen, und Fakten für die angebliche Ungerechtigkeit gegenüber dem Aggressor müssen mit Nachdruck gestellt, und Ausflüchte dürfen nicht hingenommen werden. Es darf nicht eher über die Ungerechtigkeit gesprochen werden, bis sie bewiesen ist (was nicht passieren wird, weil sie nicht existiert). Gleichzeitig müssen durch harte Zahlen und Fakten die tatsächlichen Machtverhältnisse kompakt dargestellt werden. Diesem Vergleich hält keine Lüge stand: Die bloße Behauptung einer erlittenen Ungerechtigkeit muss als das entlarvt werden, was sie ist: Ein Vorwand für einen Angriff aus niederen Beweggründen.
Und zu guter Letzt wird damit, egal bei welchem Thema, die sozialdarwinistische Ideologie des Gegenübers enttarnt. Denn hinter all diesen Angriffen und Klageliedern bei unterschiedlichen Debatten steht immer die menschenverachtende Haltung der Vision einer Gesellschaft, in der schwache und diskriminierte Gruppen kaum Rechte und keinen Schutz mehr haben sollen. Nur indem diese Ideologie klar benannt wird, kann bei wiederkehrenden Diskussionen ein Muster sichtbar gemacht werden, das den tieferen Sinn und das eigentliche Ziel dieser Angriffe offenbart:
Die Schwächung der Demokratie. Oder ihre Abschaffung.
2 Kommentare
Ein kluger Text. Allerdings ist die Gegenstrategie aufwändig – der größte Depp kann in einer Minute mehr Lügen erzählen, als hundert Weise an einem Tag widerlegen können. Und sollte er mal widerlegt werden, flüchtet er ins nächste Thema. Man nennt dies auch Gish Galopp. Ich nenne es Taubenschach.
Wow. Danke für diesen Text! Krass, dass es fast 3 Monate gedauert hat, bis das mal jemand sagt.